Ordnungsrufe: Zahlen übers Schimpfen

Benehmen sich Abgeordnete schlecht, werden sie zur Ordnung gerufen. Der aktuelle Nationalrat wurde besonders oft für seinen rauen Umgangston gerügt. In Plenardebatten war etwa vom „schäbigen Lügner“ zu hören, von einer „fetten roten Spinne“, oder von einem „hirnkastrierten Untertan“. Wer erhielt die meisten Ordnungsrufe? Wer verteilte am meisten? Und: Wie sieht die Ordnungsrufstromanalyse aus?

FPÖ-Mandatar Peter Schmiedlechner steht Ende März 2022 hinter dem Rednerpult im Plenarsaal des Parlaments und sagt: “Stellvertretend für alle Bauernbundabgeordneten und den Bauernbund darf ich dem Bauernbundpräsidenten das übergeben, was euch fehlt.” Schmiedlechner streckt seinen Arm in die Höhe, mit seiner Hand  umschließt er ein gefärbtes Ei. Der Abgeordnete geht zum Sitzplatz von Georg Strasser, ÖVP-Mandatar und Präsidenten des Österreichischen Bauernbundes, und legt ihm dieses und ein zweites Ei auf dessen Pult.

Schmiedlechner erhielt einen Ordnungsruf. „Das entspricht nicht der Würde des Hauses“, sagte Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP). Es war nicht der erste und bei weitem nicht der letzte Ordnungsruf in der laufenden Legislaturperiode. Der aktuelle Nationalrat sticht durch einen besonders rauen Umgangston hervor.

Moneymaker?

Ordnungsrufe gehören zum Alltag im Parlament. Die Präsidenten und Präsidentinnen des Nationalrats rügen Abgeordnete, die sich im Ton vergreifen. Folgen haben Ordnungsrufe keine – sieht man vom schlechten Bild ab, das die Politiker und Politikerinnen liefern.

In Deutschland werden Abgeordnete, die im Bundestag unflätig werden oder stören, sanktioniert. Ein Ordnungsgeld in Höhe von 1.000 Euro ist möglich, im Wiederholungsfall sind es 2.000 Euro. Zuletzt wurde sogar eine noch härtere Bestrafung diskutiert.

In Österreich hatte die frühere Parlamentspräsidentin Barbara Prammer (SPÖ) eine ähnliche Debatte angestoßen. Aus einer Geldbuße für schlechtes Benehmen (Stichwort Vorbildwirkung) wurde aber nichts. Würde das Parlament Ordnungsgelder verhängen, würde einiges zusammenkommen, wie eine Auswertung zeigt.

Schimpfen und beschimpfen

Für ORF.at und für den ORF Report haben meine Kollegin Miriam Ressi und ich die Ordnungsrufe der vergangenen Jahre im Nationalrat ausgewertet. Es sind tatsächlich mehr geworden. Die seit Herbst 2019 amtierenden Abgeordneten haben so oft geschimpft und beschimpft, wie niemand vor ihnen (das ist ein wenig zugespitzt: Daten für Ordnungsrufe liegen digital nur seit 1996 vor).

Um es zu verdeutlichen, die Ordnungsrufe pro Plenartag nach Legislaturperiode:

  • XXVII. Legislaturperiode (laufend): 1,4 Ordnungsrufe
  • XXVI. Legislaturperiode: 1,1 Ordnungsrufe
  • XXV. Legislaturperiode: 0,9 Ordnungsrufe
  • XXIV. Legislaturperiode: 1,1 Ordnungsrufe
  • XXIII. Legislaturperiode: 0,5 Ordnungsrufe
  • XXII. Legislaturperiode: 0,6 Ordnungsrufe
  • XXI. Legislaturperiode: 0,9 Ordnungsrufe
  • XX. Legislaturperiode: 0,5 Ordnungsrufe

Für diesen Blog-Beitrag habe ich noch ein wenig tiefer recherchiert und ein paar spannende Zahlen über die Ordnungsrufe des amtierenden Nationalrats zusammengetragen.

Seit Beginn der XXVII. Legislaturperiode am 23. Oktober 2019 wurden 205 Ordnungsrufe verteilt. Mehr als die Hälfte der parlamentarischen Rügen entfällt auf die FPÖ (124). Dahinter folgen die ÖVP (33), die Grünen (26), die SPÖ (15) und NEOS (7).

Berücksichtigt man die Klubstärke der jeweiligen Fraktionen zeigt sich folgendes Bild: Ein FPÖ-Mandatar erhielt bisher durchschnittlich 4,1 Ordnungsrufe, ein ÖVP-Klubmitglied jedoch nur 0,5. Eine SPÖ-Abgeordnete wurde im Schnitt 0,4-mal gerügt und ein NEOS-Mandatar knapp 0,5-mal. In der laufenden Legislaturperiode kassierte jeder Grün-Politiker einen Ordnungsruf – theoretisch.

Tatsächlich beschränkt sich die Zahl der Ordnungsrufe auf eine Handvoll Abgeordnete. Nur knapp ein Drittel aller Mandatare und Mandatarinnen erhielten in den vergangenen fünf Jahren einen Ordnungsruf. Mit 36 Ordnungsrufen liegt FPÖ-Chef Herbert Kickl ganz vorne. Die ersten sieben Plätze werden von Freiheitlichen belegt, erst auf Rang acht folgt ein ÖVP-Mandatar.

Wer erteilt wem einen Ordnungsruf?

Auf Ordnungsrufe reagieren Abgeordnete recht unterschiedlich. Manche sind einsichtig, andere bedanken sich oder quittieren die Rüge mit einem Lächeln. Kritisiert werden Ordnungsrufe auch, dann wird den Präsidenten bzw. Präsidentinnen vorgeworfen, parteiisch zu agieren. Ob dieser Vorwurf gerechtfertigt ist, lässt sich schwer nachweisen. Vielfach hängt der Ordnungsruf von der Frage ab, wie der Parlamentspräsident bzw. die Parlamentspräsidentin die Rolle als Hüter der Würde des Hauses anlegt.

In der laufenden Legislaturperiode teilten sich die Mitglieder des Parlamentspräsidiums die Ordnungsrufe “fair” auf. Nationalratspräsident Sobotka rügte die Abgeordneten 70 Mal, die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures (SPÖ) 68-mal und der Dritte Nationalratspräsident Norbert Hofer (FPÖ) 67-mal (Stand 5. Juli 2024).

Sobotka verteilte mit Abstand die meisten Ordnungsrufe an Abgeordnete der FPÖ. Der freiheitliche Klub wurde vom Nationalratspräsidenten insgesamt 55-mal gerügt. Der Rest von Sobotkas Ordnungsrufen verteilt sich fast gleichmäßig auf die restlichen Fraktionen (ÖVP: 4, SPÖ: 4; Grüne: 4; NEOS: 3). Unter den gerügten Wortmeldungen finden sich etwa “Lügenkonstrukt” (Gerald Hauser, FPÖ), “schäbiger Lügner” (Herbert Kickl, FPÖ), “korrupte ÖVP” (Wolfgang Zanger, FPÖ) und “hochgradig korrupt” (Christian Hafenecker, FPÖ).

Bei Bures sieht die Verteilung etwas anders aus. Zwar erhielt die FPÖ (44) auch bei der Zweiten Nationalratspräsidentin mit Abstand die meisten Ordnungsrufe. Allerdings wurden Abgeordnete der ÖVP (11) und der Grünen (7) öfters gerügt als bei Sobotka. Dahinter folgen die SPÖ (5) und NEOS (1). Bures erteilte Ordnungsrufe beispielsweise für “Schon wieder hysterisch” (Michael Hammer, ÖVP), “Schurkenregierung” (Hannes Amesbauer, FPÖ) und “Ökodiktatur” (Susanne Fürst, FPÖ).

Weitaus breiter gestaltete sich das Ordnungsrufverhalten von Hofer. Der Dritte Nationalratspräsident mahnte Abgeordnete der FPÖ (25) am häufigsten, was angesichts des hohen freiheitlichen Anteils an den Ordnungsrufen im Hohen Haus nicht überraschend ist. Klubmitglieder der ÖVP (18) und Grünen (15) folgen aber schon knapp dahinter. Abgeschlagen liegen SPÖ (6) und NEOS (3). Unter den Wortmeldungen, für die Abgeordnete einen Ordnungsruf einstecken mussten, befanden sich zum Beispiel “Putinfraktion” (David Stögmüller, Grüne), “machtversessener Haufen” (Gerald Loacker, NEOS) und “damit man euren Schwachsinn nicht weiter verbreitet” (Eva Blimlinger, Grüne).

Wollte man in das Ordnungsrufverhalten des Präsidiums des Nationalrats viel hineininterpretieren, wäre das durchaus möglich. So könnte man sich etwa die Frage stellen, ob die Freiheitlichen während der Vorsitzführung von Hofer verbal gemäßigter sind. Eine grundsätzliche Frage könnte lauten: Wie beeinflusst die Vorsitzführung das Gesprächsklima im Parlament? Um diese und andere Fragen zu beantworten, wären aber vielmehr Informationen notwendig. Klar ist jedenfalls, dass man anhand der erhobenen Zahlen folgende Ordnungsrufstromanalyse erstellen kann:

Sobotka und Kickl: Eine Ordnungsfrage

Der Großteil der Ordnungsrufe von Sobotka entfiel auf Kickl. Insgesamt 26 Rügen kassierte der FPÖ-Chef, dessen Umgangston im Hohen Haus sich von “schäbiger Lügner” über “fette, dicke rote Spinne” bis “der teuerste Flüchtling” spannt. Kickls Parteikollegin Dagmar Belakowitsch erhielt von Sobotka sieben Ordnungsrufe. Überhaupt ist die Spitze von Sobotkas “Best of Böse”-Liste im Blauton gehalten. Erst an sechster Stelle liegt mit Alois Stöger (SPÖ) ein Nicht-FPÖ-Abgeordneter.

Bei Bures steht Hannes Amesbauer (9) an erster Stelle, dicht gefolgt von Kickl (8). Dahinter reihen sich mit Belakowitsch (5), Schmiedlechner (5) und Wurm (5) drei weitere Freiheitliche ein. Michael Hammer von der ÖVP komplettiert mit vier Ordnungsrufen die Top-6. In der Liste findet sich auch Karl Nehammer (ÖVP). Im April 2021 bezeichnete der Innenminister Kickl als “Brandstifter” und kassierte einen Ordnungsruf. Regierungsmitglieder (inkl. Staatssekretär:innen) sind Gäste im Parlament und müssen sich an die Regeln des Hohen Hauses halten. Ordnungsrufe für sie haben Seltenheitscharakter.

Auch auf Hofers Liste steht ein FPÖ-Mandatar ganz oben. Dabei handelt es sich aber nicht um Kickl (2), sondern um Wolfgang Zanger (6). Der Freiheitliche ist für seine verrohte Wortwahl bekannt. In der laufenden Legislaturperiode warf er zum Beispiel den Grünen vor, sie wollten die “Schaffung des hirnkastrierten Untertans”. Auf Hofers Liste rangieren Eva Blimlinger von den Grünen und FPÖ-Mandatar Amesbauer mit jeweils vier Ordnungsrufen an zweiter Stelle. Blimlinger erhielt einen Ordnungsruf für den “Vorwurf des Anstreifens an der Wiederbetätigung” und Amesbauer für “dümmliche Zwischenrufe”.

Nicht Schwarz-Weiß

Politik und Journalismus basieren oft auf einem Schwarz-Weiß-Denken: Gut gegen Böse, die da oben und wir da unten. Wie fast immer ist die Wirklichkeit differenzierter, Ordnungsrufe zum Beispiel. Wann der Präsident bzw. die Präsidentin Abgeordnete rügt, ist ihm bzw. ihr überlassen. Gemäß Geschäftsordnung obliegt es aber dem Kollegium darüber zu wachen, dass die Würde und die Rechte des Nationalrates gewahrt bleiben. Außerdem müssen die Präsidenten und Präsidentinnen für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Sitzungssaal sorgen. Das legt auch die Hausordnung des Parlaments fest.

Sind Menschen im Spiel, existiert für das Handeln natürlich ein Ermessensspielraum. Wann wird ein Ordnungsruf erteilt? Wann kratzt die Abgeordnete gerade noch die Kurve? Die Antworten auf diese Fragen werden je nach Person unterschiedlich ausfallen. Ein paar Grundregeln dürfte es aber geben, wie aus diesem Redebeitrag von NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger hervorgeht. Nachdem Sigrid Maurer (Grüne) während einer Plenarsitzung im Mai 2023 für “Scheinheiligkeit”, “Lüge” und “Heuchelei” jeweils einen Ordnungsruf kassierte (Norbert Hofer: “ein Hattrick sozusagen”), sagte Meinl-Reisinger: “Besonders interessant für die Bürgerinnen und Bürger ist immer die Liste der Wörter, für die man automatisch einen Ordnungsruf bekommt. Ich glaube, wir
werden sie demnächst einmal online stellen, weil manches auch ein bisschen aus der Zeit gefallen ist, Herr Präsident, wie ich meine.”

Eine aktuelle Liste liegt mir nicht vor. In einer 2011 veröffentlichten Anfragebeantwortung hielt die damalige Nationalratspräsidentin Prammer allerdings ein paar Oberbegriffe fest, für die es Ordnungsrufe hagelte: “andere Verunglimpfungen”, “GO-widriges Verhalten bei einer namentlichen Abstimmung”, “Kritik an der Vorsitzführung”, “persönliche Beleidigungen und Verhöhnungen”, “Vorwurf der Korruption”, “Vorwurf der Lüge”, “Vorwurf des Rassismus bzw. politischen Extremismus” und “Vorwurf strafbarer Handlungen”.

Die zitierten Oberbegriffe decken sich zum Großteil mit Wortmeldungen der Abgeordneten der laufenden Legislaturperiode. Über einige Ordnungsrufe lässt sich aber auch trefflich streiten – emotional, aber gesittet und ohne persönliche Beleidigungen.

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2 Kommentare zu Ordnungsrufe: Zahlen übers Schimpfen

  1. Andrea sagt:

    Vielen Dank für diese ausführliche Berichterstattung! Alternativ zum Bußgeld für einen Ordnungsruf könnte ich mir gemeinnützige Arbeit vorstellen. So ein Tag Aushelfen in einer Suppenküche würde manchen nicht schaden 😉

  2. Schreibe einen Kommentar

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